Kleine Bücher mit großer Wirkung
Dr. Petra Schwarz, 23.03.2021
Eine Terrassenwohnung in Hamburg Hamm vor fast 100 Jahren: In vier düstere Zimmer mit Gasbeleuchtung scheint selten die Sonne. Die nächste Häuserreihe ist nur wenige Meter entfernt. Sechs Personen leben hier in sehr einfachen Verhältnissen auf engen 25 Quadratmetern. Im Wohnzimmer gibt es ein Bücherbord. Darauf stehen 15 Bände, einzeln nicht größer als ein kleines Taschenbuchformat. Sie gehören zur „Flora von Deutschland in Abbildungen nach der Natur“ von Jacob Sturm. Was hat diese Szene mit unserem Hier und Jetzt zu tun? Die 15 Bände der „Sturm'schen Flora“, so wie Loki sie liebevoll nannte, stehen heute im Archiv der Fachbereichsbibliothek Biologie der Universität Hamburg. Sie gehören zum Büchernachlass von Loki Schmidt. Es waren Lokis liebste Bücher.
Bildung aus der Volkshochschule
Im elterlichen Hause Glaser spielte die im März 1919 gegründete Hamburger Volkshochschule eine große Rolle. Sie ermöglichte „Bildung für alle“ zu kleinen Preisen. Zwei- bis dreimal in der Woche nahmen Lokis Eltern an sogenannten Arbeitsgemeinschaften teil. Sie setzen sich mit Ur- und Frühgeschichte, Architektur, Naturwissenschaften, Kunst, Musik und gesunder Ernährung auseinander und ließen ihre Kinder am Gelernten teilhaben. Der Vater spielte Geige und malte. Die Mutter interessierte sich besonders für Naturkunde und machte mit den Kindern Ausflüge in die Natur. Wenn vom kargen Wochenlohn etwas übrig war, kauften die Eltern ab und zu ein Buch und die erschwinglichen Kunstpostkarten.
Sturm'sche Flora neu aufgelegt
Die kostbaren Erstausgaben der „Sturm'schen Flora“ mit handkolorierten Kupferstichen und botanischen Beschreibungen aus dem 19. Jahrhundert hätte sich die Familie Glaser nicht leisten können. Zum Glück erkannten Mitglieder des Deutschen Lehrervereins für Naturkunde das Potential der Flora. Zwischen 1900 und 1907 konnten 15 Bände mit dem Verfahren des damals sehr beliebten, farbigen Steindrucks (Chromolithographie) einer größeren Zahl von Naturfreunden zugänglich gemacht werden. Neue Texte und eine aktualisierte Auswahl an Bildtafeln deckten mehr als ein Drittel der in Deutschland vorhandenen Samenpflanzen-Arten ab. Lokis Eltern konnten die „Sturm'sche Flora“ antiquarisch erwerben. Dass diese Bände die Bombardierung Hamburgs im zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden, ist ihnen zu verdanken. Die 15 Bände bedeuteten den Eltern so viel, dass sie diese vorsorglich in Neugraben bei den Großeltern untergebracht hatten. Viele andere Dinge aus dem Besitz der Glasers sind 1943 verbrannt.
Zeichnen nach der Natur
Die Abbildungen sprachen Loki bereits im Vorschulkalter an. Vielleicht war es die farbliche Harmonie des Druckes, die das Kind anregte, die Bilder wieder und wieder aufmerksam zu betrachten. Vielleicht war es die prägnante Sturm'sche Herausarbeitung des Typischen der Pflanzenarten, die die Wiedererkennung in der freien Natur förderte. Der nahe gelegene Hammer Park spielte eine große Rolle als erstes Pflanzenparadies und Erfahrungsraum für „Natur in der Stadt“. Genaues Beobachten, Beschreiben und Erkennen war Loki Schmidt vertraut. Zudem besaß sie die Begabung, das Gesehene zeichnerisch umsetzen zu können. Die Schuljahre in der Schule Burgstraße und in der Lichtwarkschule werden dazu beigetragen haben, diese Begabung auszubauen. In Archiv Schmidt in Hamburg Langenhorn sind zahlreiche Zeichnungen von Loki Schmidt aufbewahrt. Selbst die auf Reisen mit Kugelschreiber skizzierten Pflanzenarten sind treffend und sehr gut erkennbar dargestellt. Ihre Zeichnungen ergänzen die Beschreibungen in den persönlichen Reisetagebüchern auf das Beste. Loki Schmidt ließ es sich nicht nehmen, ab 1980 bis zu ihrem Tod jede „Blume des Jahres“ für die Vorstellung vor der Presse selbst zu zeichnen. Eigene Zeichnungen zieren auch so manche Briefpost von Ihr.
Vernetztes Denken
Die enge Vernetzung von Sehen, Zuordnen und Benennen einerseits und eigenen zeichnerischen Darstellungen andererseits hat von Kindesbeinen an die Pflanzenkenntnis von Loki Schmidt kontinuierlich wachsen lassen. Wurde sie nach dem Geheimnis ihres Wissensschatzes gefragt, sprach sie davon, sich keine Mühe geben zu müssen. Sie hätte das Gefühl, Neues hake sich an Bekanntes an. Es wäre zu vergleichen mit einem Fundus, in den sich neu Aufgenommenes selbst einsortieren würde. Diese Mühelosigkeit kam nicht von ungefähr. Loki Schmidt verstand Natur als komplexes und dynamisches Gefüge. Sie registrierte Bezüge und Zusammenhänge. Sie entdeckte Wechselwirkungen und Abhängigkeiten. Sie wusste, dass Betrachtung von Natur immer eine Momentaufnahme darstellt, wie ein einzelnes Bild in einem laufenden Film. Sie war sich bewusst, dass bei Eingriffen in das Geschehen des Filmes mit Nebenwirkungen gerechnet werden muss. Solche Nebenwirkungen könnten auch noch lange Zeit nach dem Eingriff zum Tragen kommen. Auf dieser Basis entwickelte Loki Schmidt als Managerin der ersten Stunde ihr paxisorientiertes Konzept vom Pflanzenarten-Schutz. Sie blieb offen für Neues und bewahrte sich kindliches Staunen und Neugier ihr ganzes Leben lang.
Mehr Loki Schmidt:
Naturforscherin ein Leben lang; hier entlang
Zum Nachlesen:
- ITALIANDER, ROLF: Loki. Die ungewöhnliche Geschichte einer Lehrerin namens Schmidt. Erzählt von Freunden. Droste Verlag; Düsseldorf; 1988; 61-71
- SCHMIDT, LOKI: Loki. Hannelore Schmidt erzählt aus ihrem Leben. Im Gespräch mit Dieter Buhl. Hoffmann und Campe Verlag; Hamburg; 2003; 13-63
- SCHWARZ, PETRA; LIEBEREI, REINHARD: Loki Schmidt – Forscherin und Botschafterin für die Natur. Edition Temmen; Bremen; 2009; 13-17; 66-67; 105
- HAMBURGER VOLKSHOCHSCHULE: 100 Jahre Bildung für alle. #wiederwasgelernt. Hamburg, 2019; 15-2;, http://vhs-portal-hamburg.de/magazin-100-jahre/ letzter Abruf 22.03.2021