Zeitkapsel reloaded
Flaschenpost aus der Vergangenheit
Jutta Krüger, 08.03.2021
Museen sind wie Eisberge. In den Ausstellungsräumen seht ihr nur die Spitze. Und wir wollen all das verborgene aus der Abgeschiedenheit der Magazine für euch ans Licht holen. Mein Name ist Krüger, Jutta Krüger. Ich habe die Lizenz zum Digitalisieren. Mein Auftrag ist es das Wissen über die verborgenen Schätze des Loki Schmidt Hauses in die Welt zu bringen. Die aktuelle Mission heißt Bredemann-Nieser-Sammlung (BN). Noch nie gehört? Das werde ich ändern.
Für diesen Einsatz muss ich nicht bis an das Ende der Welt gehen. Nur in einen langen Flur mit vielen Türen. Mittendrin eine, zu der nur ich einen speziellen Schlüssel habe. Das ist die Tür zu meiner Schatzkammer. Dahinter ein kleiner schmaler Raum, links und rechts Regale und Schränke bis zur Decke. Darin Dosen und Gläser mit Samenproben und Stapel von Herbarblättern. Nein, kein Depot einer Samenbank wie auf Spitzbergen. Hier lagern Vergleichssammlungen zum Bestimmen von Samen. Angelegt und zusammen getragen in einer Zeit lange vor Datenbanken, Google und Wikipedia. Verlässliches Vergleichsmaterial für die Bestimmung von Samen war (und ist) so viel wert wie 5G und Glasfasernetz.
Damals anno 1900 ...
Begonnen hat alles vor fast 100 Jahren. Am Botanischen Institut in Hamburg wird ein großer Wurf geplant. Die Bestimmung von Saatgut soll mit sicherem Vergleichsmaterial auf ein festes Fundament gestellt werden. Das Ergebnis ist die „Samensammlung des Staatsinstitutes für angewandte Botanik“, mein ganz besonderes Schätzchen. Lang vergessene Arbeiter:innen sammeln Saat, sähen sie wieder aus und ziehen die Pflanzen groß. Aus einem Teil entsteht ein Herbarium, wird dafür gepresst, getrocknet und auf Papierbögen fixiert. Fertig ist das Herbarblatt. Der Rest steht bis zur Samenreife, wird geerntet, gesäubert und in Glasröhrchen gefüllt.
So entsteht eine Sammlung von fast 1000 Arten der am häufigsten angebauten Nutzpflanzen und den begleitenden Wildkräutern. Sie ist zugleich eine Zeitkapsel, die uns zeigt, welche Arten damals wild auf den Feldern wuchsen. Die ganze Zeit überwachen Botaniker die sichere Bestimmung der Arten. Denn wo Allium cepa draufsteht, soll auch Allium cepa drin sein. Und nicht Allium schoenoprasum. Denn niemand möchte, wenn Zwiebeln ausgesät sind von Schnittlauch überrascht werden. Die Sammlung wird nach den Institutsleitern Gustav Bredemann und Otto Nieser benannt. Sie wurde mehr als 100mal weltweit an Saatgutfirmen und Analysenlabore verkauft. Einmalig ist die Kombination aus Samensammlung und Herbar.
...und zurück in die Zukunft
Jetzt kommt mein Aufritt. Ich führe die Mission „BN ans Licht bringen“ weiter, die vor über 20 Jahren begann. An den Start ging meine Vorgängerin, Almuth Andres, noch mit analoger Fotografie. Das hieß einen Film belichten, in die Entwicklung geben, Tage warten und erst dann sehen wie Beleuchtung, Farbe, Kontrast und Bildschärfe ausgefallen sind. Zum Glück ging der Fortschritt der digitalen Fotografie rasant voran und wir konnten uns vom Negativ und Papierbild verabschieden. Nun war alles bereit das Mammutprojekt anzugehen.
Beim Fotografieren der einzelnen Arten achte ich darauf mit wenigen Samen die ganze Vielfalt der möglichen Formen zu zeigen. Und doch muss dabei das für jede einzelne Art ganz Typische getroffen werden: Die kleinen Objekte mit ruhiger Hand ausrichten und ausleuchten. Staub und Fusseln sehr vorsichtig mit einem feinen Pinsel entfernen. Und Aufnahme! Das Herbar wird mit einem großen Flachbettscanner Blatt für Blatt in die digitale Welt gebeamt: Die Jahrzehnte alten Blätter vorsichtig wie rohe Eier Stück für Stück auf die Platte heben, Maßstab und Farbkarte platzieren, auf das Gerät legen und ein detailreicher Scan wird in einigen Minuten fertig sein.
Genug geredet. Ich bin eine Frau der Tat. Ein großer Teil ist schon geschafft, den Rest nehme ich nun unerschrocken in Angriff. Ob mein Einsatz von Erfolg gekrönt wird könnt Ihr demnächst selbst sehen. Nicht hier, aber auf FUNDus! – dem Sammlungsportal der Universität Hamburg. Einige weitere verborgene Schönheiten zeige ich euch doch schon mal hier.
Teaserbild: das, was ausschaut wie die Inspiration für ein altes Flash Gordon Raumschiff, ist übrigens die einsamige Hülse der Esparsette, Onobrychis viciifolia Scop.